30 Jahre Arbeitskreis Dorfentwicklung 1978-2008:

Rückblick und Resümee von Gerhard Henkel

 

Ein Rückblick auf 30 Lebens- und Arbeitsjahre eines interdisziplinären Arbeitskreises auf wenigen Seiten kann nur ein grober Holzschnitt sein. Erlaubt sei ein kleiner persönlicher Hinweis: In meinem Büro stehen etwa 40 gefüllte Aktenordner des Bleiwäscher Kreises mit Briefwechseln, Aktenvermerken von Telefonaten und persönlichen Gesprächen, von Planungsskizzen und Entwürfen, Presseartikeln, Interviews, Manuskripten usw. Ich will also versuchen, die wichtigsten Motive von damals und die wesentlichen Erfahrungen und Erfolge der 30 Jahre zu beschreiben und am Ende auch einen kurzen Blick auf die Zukunft des Arbeitskreises zu werfen.

 

Die Startphase 1977-78

 

Den Impuls zur Begründung des AK Dorfentwicklung gab mein Aufsatz „Die moderne Dorfentwicklung als Aufgabenfeld der Historischen Geographie“ in der Zeitschrift FORUM (Nr. 1 vom August 1977) des Arbeitskreises für genetische Siedlungsforschung in Mitteleuropa. Dieser Aufsatz war zugleich ein Appell und mit dem Angebot verbunden, eine Arbeitsgruppe zur modernen Dorfentwicklung aufzubauen. Die Resonanz war sehr erfreulich, und so kam es am 8.6.1978 in Wilhelmshaven zur Gründung der Arbeitsgruppe Dorfentwicklung. Hier wurde auch gleich der Beschluss gefasst, zu Beginn des Jahres 1979 in Bleiwäsche im Kreise Paderborn ein interdisziplinäres Dorfsymposium durchzuführen.

 

Die damaligen Motive

 

Ich kann mich noch gut an die entsprechenden Motive dieser Jahre von 1975 bis 1978 erinnern:

 

1. In der Geographie war damals die große Zeit der begrifflichen Reflexionen. Drei gewichtige Bände (von Uhlig und Lienau) über Siedlungen, Flurformen und Bevölkerung des ländlichen Raumes, gefüllt mit Differenzierungen und Fixierungen von einschlägigen Fachbegriffen, waren gerade erschienen. Auf Tagungen und in Zeitschriften stritt man tage- und wochenlang um definitorische Verbesserungen zentraler Begriffe wie Wüstung, Dorf oder Landschaft.

Ich weiß noch genau, wie mir im Mai 1977 auf einer großen Jahrestagung in Saarbrücken der Kragen platzte, als man dort fast einen ganzen Tag mit Diskussionen um den zu erweiternden Wüstungsbegriff verbracht hatte. Ich hielt in einer energischen Grundsatzrede der etablierten Professorenriege vor, daß man sich nicht nur um diese Begriffe, sondern auch um deren Stellenwert in der konkreten Landschaft und um das Beschreiben dieser Elemente für die Bevölkerung und die Politik kümmern müsse.

 

2. Mein emphatischer Impuls, der bereits kurz darauf zum erwähnten Aufsatz im FORUM führte, stand nicht isoliert. Es war die Phase der entstehenden Bürgerinitiativen (vor allem in den Bereichen Natur- und Denkmalschutz), spontane Bewegungen "von unten", die eher als die Wissenschaft und Politik konkrete Defizite vor Ort ansprachen und sich auch dafür einsetzten. So hatte ich bereits einige lokale und regionale Aktionen im Paderborner Land mitgemacht oder initiiert.

 

3. Im politischen Raum war damals zeitgleich eine neue große Aufgabe entstanden, das Zukunftsinvestitionsprogramm ZIP von 1977 zur Dorferneuerung. Hier sah nun eine Reihe junger Wissenschaftler eine konkrete Chance, mit ihren Kenntnissen in die Praxis der Dorfplanung einzusteigen.

 

4. Es gab in meiner Heimat die ersten schmerzlichen Erfahrungen mit der sog. städtebaulichen – d.h. der flächensanierenden – Dorferneuerung, die mich regelrecht schockiert hatten. Diese aus heutiger Sicht unglaublichen Konzepte begannen damals mit ihrer Realisierung, obwohl das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 auch in Deutschland längst eine Trendwende (zunächst im städtischen Raum) eingeleitet hatte.

 

Konzeption und Ziele

 

Aus diesen Motiven heraus werden die Konzeption und Zielsetzung des 1978 begründeten AK Dorfentwicklung plausibel.

 

1. Die traditionelle Dorfforschung war seinerzeit fast ausschließlich eine beschreibende

Disziplin. Es gab zwar sehr viele Kenntnisse über das Dorf (Formen, Ökonomie,

Sozialleben und Kultur, Ökologie u.a.), aber es gab keine Nutzbarmachung der vielen

Kenntnisse für die Planungspraxis und die Kommunalpolitik. Es ging uns damals also in

erster Linie darum, die Kenntnisse und Methoden der Dorfforschung für die gegenwärtige

und zukünftige Dorfentwicklung nutzbar zu machen.

 

2. Der Arbeitskreis war von vornherein interdisziplinär angelegt. Vor allem dabei waren:

Geographen, Historiker, Architekten, Soziologen, Kulturanthropologen, Politologen,

Raumforscher, Kommunalwissenschaftler.

 

3. Da es uns auf Praxiswirkung ankam, wurden recht bald Kontakte und Netzwerke zu

Bürgermeistern und Dorfplanern sowie Fachleuten aus den einschlägigen Agrarbehörden und Ministerien aufgebaut. Bereits auf dem zweiten Bleiwäscher Dorfsymposium 1980 waren diese Praktiker als Referenten und Teilnehmer vertreten. Durch mein damaliges Mitwirken in der Kommunalpolitik hatte sich bei mir eine regelrechte Hochachtung vor dem

Bürgermeisteramt entwickelt. Und wenn Sie heute auf die Referenten- und Teilnehmerliste

schauen, werden Sie sehen, daß sich der Anteil der Bürgermeister und Dorfplaner

keineswegs verringert hat. Das halten wir für extrem wichtig. Und das Geben und Nehmen

zwischen Wissenschaft und Praxis ist zu einem besonderen Bleiwäscher

Markenzeichen geworden.

 

4. Die wesentliche Zielsetzung des Bleiwäscher Kreises besteht darin, wichtige Fragen und

Probleme des Dorfes wahrzunehmen und im Diskurs von Wissenschaft und Praxis, von

Experten und Dorfbewohnern zu behandeln und dabei auch Antworten oder Anregungen zu

entwickeln. Seine Arbeit konzentriert sich weitgehend in den (bislang) alle zwei Jahre stattfindenden Dorfsymposien in Bleiwäsche. Durch den gleichbleibenden Tagungsort etablierte sich in der Öffentlichkeit allmählich der Name „Bleiwäscher Kreis“.

 

Bilanz der 30 Jahre

 

Die Entwicklung des Bleiwäscher Kreises läßt sich gut an den Themenschwerpunkten der bisherigen 16 Dorfsymposien ablesen. Diese reagieren in erster Linie auf den konkreten Strukturwandel des Dorfes mit seinen starken Entwicklungsbrüchen sowie den einschlägigen staatlichen Steuerungsprogrammen. Mal standen eher die konkreten Fragen und Sorgen der Praxis im Vordergrund durch Themen wie Dorferneuerung, Infrastrukturverluste oder Leerstand von Gebäuden. Mal eher die Interessen der Wissenschaft durch Fragen und Themen wie Schadet die Wissenschaft dem Dorf? oder Dörfliche Lebensstile. Wir sind sicher mehrfach aktuellen Themenstellungen gefolgt, haben aber auch gegen den Mainstream z.B. die negativen Folgen der Kommunalen Gebietsreform ausführlich behandelt. Was wir bis heute weitgehend ausgespart haben, sind die konkreten betriebswirtschaftlichen Wandlungsprozesse in der Land- und Forstwirtschaft einschließlich ihrer speziellen agrarpolitischen Steuerungen durch die EU- und Bundespolitik.

 

Wichtig war es uns, junge Leute mit innovativen Arbeiten oder Projekten in Bleiwäsche zu Wort kommen zu lassen, um Anregungen zu bekommen und weiterzugeben. Wir haben auf den regionalen Proporz innerhalb Deutschlands geachtet und nach 1990 die Neuen Länder bevorzugt in den Blick genommen. Zu diesem Zweck haben wir sogar einmal Bleiwäsche verlassen und haben Bleiwäsche 8 (1992) in Wilhelmsthal in Thüringen veranstaltet.

 

Insgesamt lassen die Bleiwäscher Themen sicherlich einmal ein repräsentatives Bild der deutschen Dorfforschung der letzten 30 Jahre erkennen. Zum anderen werden die abgelaufenen Wandlungsprozesse des Dorfes und damit auch die wesentlichen Sorgen, Aufgaben und Programme der ländlichen Struktur- und Kommunalpolitik ablesbar.

 

Im Rückblick auf die Motive und Zielsetzungen der Gründerjahre vor 30 Jahren dürfen wir mit der Bilanz des Bleiwäscher Kreises bis heute sehr zufrieden sein. Die Bleiwäscher Dorfsymposien haben sich längst zu einem anerkannten Forum wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Bemühungen um den ländlichen Raum etabliert. Der ruhige und respektvolle Dialog von Wissenschaft und Praxis, von Experten und Dorfbewohnern ist in Bleiwäsche Wirklichkeit geworden und wird stets als wohltuend empfunden, wie mir immer wieder von Referenten und Tagungsteilnehmern bestätigt wird. Ich denke, daß wir mit dem Bleiwäscher Kreis insgesamt sowohl das Selbstbewußtsein des Dorfes als auch seine Bewertung in Wissenschaft, Politik und den Medien verbessert haben.

 

Besondere Erfolge und Außenwirkung

 

Von Bleiwäsche ging eine zweifache Wirkung aus. Zunächst einmal wurde hier der interdisziplinäre Diskurs zwischen den unterschiedlichen Dorfforschungs-Disziplinen aufgebaut und gepflegt. Wo sonst sitzen regelmäßig Architekten, Geographen, Historiker, Raumforscher und Soziologen zusammen und ringen aus verschiedenen Blickwinkeln um Fortschritte zum Nutzen des Dorfes (Fast nie kam es zu den berühmten Hahnenkämpfen, die oft innerhalb der einzelnen Fächer zu beobachten sind.)? Zahlreiche Forschungsprojekte wurden in Bleiwäsche angeregt und vorgestellt. Da alle Tagungen einschließlich der jeweils am Ende erstellten Resolutionen publiziert wurden (was stets mit viel Arbeit und Geduld verbunden war), war die Ausstrahlung in die wissenschaftliche Dorfszene nachhaltig gesichert. Mehrere Tagungsbände waren nach kurzer Zeit vergriffen!

 

Die Außenwirkung des Bleiwäscher Kreises in die Praxis der Dorfplanung und Kommunalpolitik wurde durch eine ständige Öffentlichkeitsarbeit gepflegt. Die Ankündigungen und Ergebnisse der Bleiwäscher Tagungen wurden über die einschlägigen Medien der Kommunalpolitik und Planungspraxis verbreitet. Mehrfach wurde über die Bleiwäscher Tagungen in überregionalen Medien wie Süddeutsche Zeitung, FAZ und Frankfurter Rundschau berichtet. Nach den Tagungen schlossen sich nicht selten Interviews mit lokalen und überregionalen Rundfunksendern an. So brachte der Deutschlandfunk am 9.8.2007 in der Sendung Studiozeit ein etwa halbstündiges Feature über die Aktivitäten des Bleiwäscher Kreises. Generell folgten den Bleiwäscher Tagungen stets zahlreiche Vorträge der Veranstalter und Referenten in ganz Deutschland, nicht selten kam es zu längeren Korrespondenzen, zu ausführlichen Beratungen von Kommunen und Ministerien.

 

Fragt man nach den inhaltlichen Themen, die eine besonders nachhaltige Ausstrahlung erzielt haben, so lassen sich generalisiert zwei hervorheben:

Bereits auf den beiden ersten Bleiwäscher Tagungen wurden – unter Beteiligung von Denkmalpflegern - die Zielvorgaben der Erhaltenden Dorferneuerung entwickelt und durch wiederholte Publikationen, Vorträge, Interviews usw. verbreitet, bis sie schließlich in den Richtlinien für die Dorferneuerung fixiert wurden (u.a. der Länder Bayern und Hessen).

 

Ein weiterer Schwerpunkt war die kritische Aufarbeitung der Zentrale-Orte-Euphorie in der Raumforschung wie in den Raumordnungs- und Fachplanungspolitiken des Bundes und der Länder mit dem Ergebnis der ständigen Fern- und Fremdsteuerung des Ländlichen Raumes durch die zentralen Institutionen. Die komplexe Thematik wurde aufgearbeitet am Beispiel der Kommunalen Gebietsreform mit ihren zahlreichen negativen Konsequenzen in Westdeutschland (Bleiwäsche 1986 und 1990). Als nach der Wiedervereinigung 1990 in den neuen Ländern sofort über neue Kommunalverfassungen diskutiert wurde, betrieb der Bleiwäscher Kreis dort mit mehreren Akteuren eine intensive Öffentlichkeitsarbeit und Politikberatung. So wurde ein 5-Seiten-Resümee zur Kommunalen Gebietsreform im Westen erstellt, in dem zugleich vor einer übereilten Verordnung von Großgemeinden mit Zwangseingemeindungen im Osten gewarnt wurde. Diese Resolution des Bleiwäscher Kreises wurde tausendfach an alle Gemeinden, Kreise, Regierungen, Landtage und Parteien der neuen Länder verschickt. Die riesengroße Resonanz dieser Aktion führte zu zahlreichen Vorträgen, Beratungsforen und Korrespondenzen (und füllte letztlich mehrere Aktenordner). Daß im Osten Deutschlands die meisten ländlichen Gemeinden seinerzeit ihre Autonomie erhalten konnten – mit den überwiegend eingeführten Ämtern oder Verwaltungsgemeinschaften – und nicht per Gesetz in Einheitsgemeinden gezwungen wurden wie vorher z.B. in Hessen oder NRW, ist vielleicht auch ein Verdienst des hier unermüdlichen Bleiwäscher Kreises.

 

Die tragenden Kräfte des Arbeitskreises

 

Wer waren die Personen, die diesen Arbeitskreis über die Jahre hin geformt und getragen haben? Natürlich gab es den Kopf und Motor, der die Fäden in der Hand hatte und fast nie müde wurde, an der selbstgestellten Aufgabe zu arbeiten, wichtige Defizite oder positive Signale der Dorfentwicklung und Dorfbehandlung in Deutschland wahrzunehmen und daraus Tagungskonzepte mit Experten, Verantwortlichen und Betroffenen zu formen und diese dann hier in Bleiwäsche umzusetzen. Aber ohne wichtige Mitdenker und Vertraute wäre der Bleiwäscher Kreis sicherlich keine 30 Jahre alt geworden. Vor allem gab und gibt es zwei besonders gute Helfer und Berater, die mich praktisch von Anfang an auf Augenhöhe begleitet und unterstützt haben.

 

Schon seit der Gründung dabei ist der Kollege und Freund Charlie Hauptmeyer, Historiker aus Hannover, mit dem ich auf vielen langen Spaziergängen im Paderborner und Hannoveraner Land über die jeweils nächsten Bleiwäscher Themen diskutiert habe. Außerdem fertigt C.-H. Hauptmeyer schon seit Jahren am Ende der Bleiwäscher Tagungen den Entwurf einer Resolution, die die Tagungsergebnisse zusammenfaßt. Mein zweiter Stützpfeiler ist Detlev Simons, ehemals Professor für Architektur in Stuttgart, der seit 1980 im Führungsteam mitwirkt und als Praktiker uns beiden Kulturwissenschaftler häufig auf den Boden der Wirklichkeit geholt hat (u.a. „Das wichtigste auf Tagungen sind die Pausen“). Beiden Kollegen möchte ich auch an dieser Stelle meinen ganz persönlichen und herzlichen Dank aussprechen. Außerdem möchte ich auch allen weiteren Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fächern, Berufspositionen und Regionen in Deutschland herzlich danken, die oft über viele Jahre hin zum harten Kern des Bleiwäscher Kreises gehört und diesen ebenfalls mitgetragen haben.

 

 

Weitergabe der Leitung in jüngere Hände

 

Soviel Dankesworte deuten an, was einige ja auch schon aus dem Tagungsprogramm herausgelesen haben, daß ich die Leitung des Bleiwäscher Kreises nach dem Ablauf dieser Tagung weitergeben möchte. Dies war auch schon so im Führungskreis vor zwei Jahren angekündigt worden. Daß ich nach nun 30 Jahren das Zepter an jüngere Kollegen/innen übergebe und ins zweite Glied trete, ist für mich zwar mit etwas Abschiedsschmerz verbunden, aber es ist aus meiner Sicht richtig, und es stehen auch qualifizierte Nachfolger bereit. Nach so langen Jahren ist es Zeit für einen Wechsel, und eine Blutauffrischung wird dem Bleiwäscher Kreis guttun. Und es gibt mit Sicherheit auch noch einiges zu verbessern.

 

Wie wird es weitergehen? In den letzten Jahren haben besonders drei jüngere Kolleginnen und Kollegen durch ihre Mitarbeit und Verbundenheit den Bleiwäscher Kreis bereichert. Dies sind Frau Schmied aus Bayreuth, die u.a. den letzten Bleiwäsche-Band als Schriftleiterin betreut hat, sowie die Herren Born aus Berlin und Bombeck aus Rostock. Alle drei haben großes Interesse und die Bereitschaft bekundet, den Bleiwäscher Kreis weiterzuführen, und zwar mit Herrn Born als Sprecher. Nach dem Triumvirat Henkel, Hauptmeyer, Simons startet nun also das Dreigestirn Born, Bombeck, Schmied. Alle drei sind sich auch darin einig, daß der Bleiwäscher Kreis seinen etablierten Namen und seinen Haupttagungs-Standort hier im Paderborner Land beibehält und auch damit ein Stück Kontinuität anstrebt. Ich wünsche dem neuen Führungsteam ein wohltuendes Miteinander und ein gutes Gelingen zum Nutzen des Dorfes. Ad multos annos!

(am 6.5.2008 in Bleiwäsche vorgetragen)